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Ich bin heute auf eine deutsche Seite gestoßen, die versucht, die Beziehung zwischen Kantonesisch und Mandarin, oder dem Begriff Chinesisch, zu erklären. Spoiler Alert: diesen Artikel finde ich total Quatsch. Er behauptet, Kantonesisch sei ein Dialekt von Chinesisch, und Mandarin sei Hochchinesisch.Diese Art Kategorisierung ist ganz politisch motiviert, und von einem rein sprachwissenschaftlichen Standpunkt ist sie sehr problematisch.
In diesem Video werde ich versuchen, als ein Sprachenliebhaber, ein Amateursprachwissenschaftler und ein Sprecher von drei sinitischen bzw. chinesischen Sprachen, zu erklären, was ein Dialekt in diesem Zusammenhang wirklich bedeutet, und abgesehen von der Politik, was Kantonesisch eigentlich ist, und wie man überhaupt diese Sprachen betrachten soll.
1. Was ist Chinesisch überhaupt?
Im grunde ist Chinesisch eine Sprachfamilie, sowie die romanischen oder slawischen Sprachen. Diese Familie wird auch „Sinitisch” genannt, und darin gibt es 7 bis 10 Gruppen von Dialekten (nicht 7 bis 10 Dialekte).
Sprachwissenschaftler: Gegenseitige Verständlichkeit
Achtet doch mal zuerst darauf, dass die Sprachwissenschaft hauptsächlich auf der mündlichen Form von Sprachen basiert. Also im Allgemeinen definiert Sprachwissenschaftler Sprachen und Dialekte je nachdem, ob zwei Mundarten gegenseitig verständlich sind. Das heißt, wenn zwei Menschen miteinander sprechen, indem sie ihre eigenen Mundarten benutzen, und wenn sie sich größtenteils verstehen können, dann nennt man diese Mundarten Dialekte von einer Sprache.
Zugegeben, die gegenseitige Verständlichkeit ist nicht immer schwarzweiß. Es gibt eine Skala zwischen vollständiger Unverständlichkeit, z.B. zwischen Deutsch und Finnisch, und hoher Verständlichkeit, z.B. britisches und amerikanisches Englisch. Aber generell kann ein Nordchinese einen Kantonesen nicht viel verstehen, ohne früher der kantonesischen Sprache ausgesetzt zu werden. Das gilt auch für die anderen sinitischen Sprachen.
Zu diesem Prinzip von der gegenseitigen Verständlichkeit gibt es natürlich auch Ausnahmen, z.B. in einigen europäischen Sprachfamilien, weil von unserer deutschsprachigen Perspektive aus, ist es schon Brauch, z.B. Schweizerdeutsch als eine Variante von Deutsch (von Hochdeutsch) zu betrachten, was im grunde doch nicht hundertprozentig akkurat ist.
Aber wenn wir jetzt mal von viel fremderen Sprachen reden, und besonders von sogennanten „Dialekten”, die von fast so vielen Leuten als Muttersprache gesprochen werden, wie die ganze deutsche Sprache, lohnt es sich dann, ein kleines bisschen näher auf die Details und auf die technische Richtigkeit aufzupassen.
Dialekt: Falsche Übersetzung
Eine andere Erklärung zum Missverständnis leitet vom chinesischen Begriff 方言 her. Dieses Wort bedeutet buchstäblich „regionale Sprache”, was natürlich die sinitischen Sprachen beschreiben kann. Aber wenn man erstmal versucht hat, diesen Begriff zu übersetzen, hat man „Dialekt” als das Äquivalent gewählt. Wenn man heutzutage an 方言 denkt, verbindet man das Wort mit dem nicht gleichen Konzept „Dialekt”.
Manchmal wird Chinesisch auch als eine Gruppe von Dialekten bezeichnet. Und das stimmt doch, im gleichen Sinne wie Germanisch eine Gruppe von Dialekten ist. Es gibt einige deutsche Dialekte, englische Dialekte, und diese kleineren Gruppen von Dialekten schließen sich zusammen, um eine größere Gruppe von Dialekten zu formen.
In der sinitischen Familie gibt es einige mandarinische Dialekte im Norden von China, und kantonesische Dialekte im Süden, in Hongkong, in Macau, usw. Min oder Hokkien Dialekte gibt es auch im Osten und in vielen anderen Ländern. Diese sind alle einzelne Sprachen in einer größeren Familie.
2. Aber sie werden doch gleich geschrieben?
Die Antwort auf diese Frage besteht aus zwei Teilen.
Schrift und Sprache sind voneinander unabhängig
Erstens ist die chinesische Schrift eine Schrift und nicht eine Sprache, ungefähr wie die lateinische Schrift oder die kyrillische Schrift.
Der früher erwähnte Artikel behauptet, „wenn etwas mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben wird, ist es Chinesisch”.
Das ist die gleiche Logik wie die Aussage, dass Ukrainisch, Belarusisch, Mongolisch und Kasachich alle Dialekte von Russisch sind, weil sie mit der kyrillischen Schrift geschrieben werden. Wenn euch diese Sprachen ähnlich aussehen, weist es einfach auf, dass ihr Kyrillisch nicht lesen könnt, und nicht dass sie dieselbe Sprache sind. Weil alle chinesischen Schriftzeichen solche Quadraten sind, könnten die unterschiedlichen chinesischen Sprachen ähnlich aussehen.
Apropos Kasachisch und Mongolisch, diese Sprachen werden bald zu der lateinischen bzw. mongolischen Schrift wechseln. Bedeutet das denn also, diese Sprachen werden ganz andere Sprachen sein? Natürlich nicht.
Im gleichen Sinne gibt es auch chinesische Sprachen, die traditionell (ich meine seit Jahrhunderten) mit der lateinischen Schrift geschrieben werden, z.B. Taiwanesisch. Nicht transliteriert, sondern geschrieben, in Büchern und anderem Alltagsgebrauch. Ist das also eine andere Sprache, wohingegen Kantonesisch ein Dialekt von Mandarin ist? Es macht gar keinen Sinn!
Es stimmt aber auch, dass die chinesische Schrift kein Alphabet ist, in dem jedes Zeichen einen Klang bezeichnet, sondern ein logographisches System, in dem Zeichen auf sowohl Klang als auch Bedeutung deuten. Deswegen ist es vergleichsweise schwer, das Schriftsystem auf eine andere Sprache zu übertragen.
Jedoch ist es theoretisch möglich, Deutsch mit chinesischen Zeichen zu schreiben, genauso wie Russisch mit dem lateinischen Alphabet geschrieben werden kann.
[Tweet “Die chinesische Schrift ist nur eine Schrift und keine Sprache.”]
Gemeinsame Schriftsprache: eine Fremdsprache
Zweitens gibt es das sogenannte Standardchinesisch, oder Hochchinesisch, das eigentlich die gemeinsame chinesische Schriftsprache ist.
Im alten China war es Brauch, die mündliche Sprache überhaupt nicht aufzuschreiben. Bis zum frühen 20. Jahrhundert war es am häufigsten unter den Gelehrten (die die einzigen schreibfähigen waren), im klassischen Chinesisch (文言文) zu schreiben, was eigentlich der Vorfahre von den chinesischen Sprachen ist. Deswegen waren Chinesen daran gewöhnt, anders zu schreiben als zu sprechen. Man kann diese Umstände mit dem Status des Lateinisch in Europa vergleichen. Jahrhundertelang hat man Französisch, Englisch, Deutsch usw. gesprochen aber auf Lateinisch geschrieben.
Im frühen 20. Jahrhundert gab es schon viele Sprachen und Dialektgruppen, die sich aus dem alten Chinesisch entwickelt haben. Damals erschienen es Reformen, die darauf zielten, die „mündliche Sprache” zu schreiben. Aber weil diese Reformen, sowie die ganze Politik, sich in Nordchina stattfand(en), und weil Mandarin viel verbreiteter war als die anderen Sprachen, wurde Mandarin die gemeinsame schriftliche Sprache von allen Chinesen, abgesehen davon, welche Sprachen sie eigentlich gesprochen haben.
Also im Süden von China gibt es heute eine sehr ähnliche Situation wie vor Jahrhunderten, aber jetzt anstatt des klassischen Chinesisch schreibt man auf Mandarin, das immer noch eine Fremdsprache ist.
Ein Gedankenexperiment: Französisch als Englische Schriftsprache
Stellt mal euch vor, England würde von Frankreich okkupiert und Englisch dürfte nicht mehr geschrieben werden. Briten würden immer noch Englisch sprechen, aber da sie nur Französisch schreiben dürften, würden sie jetzt mal französische Bücher auf Englisch aussprechen, und glauben, dass das das echte geschriebene Englisch wäre. Also
Je veux demander que vous prépariez une présentation.
wäre in englischen Büchern geschrieben und so ausgesprochen
???
Und so in der Tat sieht die Situation bei den sinitischen Sprachen aus.
Die anderen sinitischen Sprachen können natürlich auch geschrieben werden, sowie alle Sprachen der Welt. Die lateinische Schrift pe̍h-oē-jī wird, wie früher gesagt, seit Jahrhunderten für Hokkien benutzt, und Kantonesisch wird auch schon ungefähr so lange mit einer Form der chinesischen Schrift geschrieben. Diese Schriftsprache hat sich im letzten Jahrhundert allmählich verbreitet, und heute gibt es sogar viel Literatur auf Kantonesisch. Nun versuchen viele Leute, die allgemeine Einstellung, dass mandarinische Schrift formeller ist, zu verändern.
Wenn man früher einen von diesen sogenannten Dialekten lernen wollte, musste man eine ganz andere Syntax und andere Vokabeln lernen, um lesen zu können, was das Lernen sehr schwer gemacht hat. Aber jetzt verwandelt sich dieses sehr schnell.
3. Ist Kantonesisch schwieriger zu lernen als „Chinesisch”?
Es gibt ja viele gute Gründe, um Kantonesisch zu lernen. Wie schon beschrieben sprechen fast so viele Leute Kantonesisch als Muttersprache wie Deutsch, oder nämlich 73,1 Millionen. Diese Leute sind auch verstreut in Diasporen in vielen Ländern, deshalb wird die Sprache weltweit gesprochen.
Schon im letzten Jahrhundert hatte die kantonesischsprachige Kultur eine ausgeprägte Identität und wird immer noch in die Welt ausgeführt. Wegen der halt heutigen Situation in Hongkong werden wahrscheinlich noch viel mehr auswandern, und man kann diese fleißigen Neuankömmlingen willkommen heißen, indem man versucht, ihre Sprache ein bisschen zu verstehen.
Leider sind Kantonesen nicht angewöhnt, Lerner zu unterstützen. Viele von denen, besonders ältere Leute, bestehen darauf, dass es sich mehr lohnt, Mandarin zu lernen. Diese Überzeugung, dass chinesische „Dialekte” irgendwie minderwertig sind, führt auf den chinesischen Nationalismus zurück. Gleichzeitig fühlen sich viele jüngere Hongkonger auch besonders stolz, wenn sie Ausländer davon überzeugen, dass Kantonesisch halt extrem schwierig ist.
In der Tat ist jede sinitische Sprache ungefähr gleich so schwer für westliche Lerner, und Kantonesisch in Hongkong könnte sogar leichter sein, wegen der großen Menge Lehnwörter aus dem Englischen. Nicht nur alltägliche Wörter wie baa1si2 (bus), dik1si2 (taxi) und bo1 (ball), sondern auch abstrakte Wörter wie paak3 (to park), buk1 (to book), sogar aau3giu6 (to argue) und das Schimpfwort puk1gaai1 (poor guy) stammen aus dem Englischen.
Es gibt zwei mehr Töne im Kantonesischen als im Mandarin, aber solange man die allgemeine Fähigkeit, Töne auszumachen, durch viel Übung erworben hat, machen die zwei zusätzlichen Töne keinen großen Unterschied. Außerdem gibt es viel weniger Homophone, d.h. gleichklingende Wörter, denn die Bandbreite von erlaubten Silben ist viel weniger begrenzt, z.B. kantonesische Silben dürfen auf -m enden und Mandarin nicht.
Heutzutage ist es viel viel leichter als früher, um Kantonesisch zu lernen, weil in letzter Zeit so viele Leute sich die Mühe machen, zunehmend mehr Lernmittel zu erschaffen, z.B. Online-Fibeln, Wörterbücher, jetzt noch die erste Literaturzeitschrift auf Kantonesisch und bald mein eigener Podcast. Kenntnisse von Jyutping, der Standardform von kantonesischer Transliteration, verbreiten sich auch schnell unter Muttersprachlern. Ich verlinke einen Blogartikel, der erklärt, warum jetzt die allerbeste Zeit ist, um das Kantonesisch lernen anzufangen.
[Tweet “Jetzt ist die allerbeste Zeit ist, um das Kantonesisch lernen anzufangen.”]
Abschluss: eine diverse Sprachlandschaft
Viele Leute in der Welt sind immer noch der Überzeugung, dass Chinesisch eine einzige Sprache ist, und chinesische Dialekte im Rest von China gesprochen werden. In China folgt sie aus dem konventionellen und fest verwurzelten Nationalismus, und im Westen aus Fremdheit und aus der in Europa üblichen Verbindung zwischen Sprache und Nation. Aber in der Wirklichkeit ist China eine so diverse und mannigfaltige Sprachlandschaft wie Europa, und es ist nur der Gebrauch der gemeinsamen Schriftsprache, der dieses Missverständnis verursacht.
Also wenn ihr vorhabt, irgendeine sinitische Sprache zu lernen, sollt ihr mal überlegen, für welche Kultur ihr euch am meisten interessiert, und welcher Gemeinschaft ihr euch wahrscheinlich aussetzen werdet. Natürlich gibt es auch sehr gute Gründe, Mandarin zu lernen, z.B. die Riesenanzahl Muttersprachler und die überwältigende Macht des chinesischen Regimes auf der Welt, aber „Mandarin ist Hochchinesisch und deswegen lernt man keine Dialekte” ist nicht einer davon.